Sie leben in jedem, wiegen etwa zwei Kilogramm, und ohne sie können wir nicht existieren. Wer ist das? Richtig, das menschliche Mikrobiom, ein Verbund von bis zu einer Trillion Bakterien. Sie hausen in dichten Biofilmen. Sie haften auf Schleimhäuten und der Haut, die meisten kleiden die Windungen des Darms aus.
Das Mikrobiom des Darms ist so bedeutsam, dass es schon als ein eigenes Organ bezeichnet wird. Dieses „Organ aus Bakterien“ steht mit den übrigen Organen in enger Verbindung. Mikrobiom und Gehirn kommunizieren über Blut und Nerven. Forscher sprechen gar von der „Darm-Hirn-Achse“. Die Kleinstlebewesen produzieren etwa das Hormon Serotonin, das uns durchströmt, wenn wir verliebt sind, und an dem es uns mangelt, wenn uns eine Depression befällt. Und sie kennen auch noch die „Darm- Herz-Achse“, weil das Mikrobiom sogar über Herz-Kreislauferkrankungen mitentscheidet. „Bei eigentlich allen Erkrankungen wird derzeit der Einfluss des Mikrobioms untersucht. Es wird künftig ein wichtiges Ziel bei medizinischen Behandlungen sein.
„Drugging the gut microbiome“ war 2015 ein Artikel in „Nature Biotechnology“ betitelt. Seither ist es unter Forschern zum geflügelten Wort geworden: Das Mikrobiom therapieren. Naheliegend war der Ansatz bei lebensbedrohlichen Durchfallerkrankungen. Inzwischen denken die Forscher weit darüber hinaus – und an Krankheiten, bei denen nie jemand ernsthaft eine Rolle der Siedler aus dem Darm in Betracht zog. Bahnbrechende Befunde gibt es etwa bei Autismus und eine erste Hoffnung gegen Demenz.
Lange entging den Medizinern der Zusammenhang, weil die Wechselwirkung sehr subtil abläuft. Ein Beispiel: PCO, das polyzystische Ovarialsyndrom, ist eigentlich eine Störung im Hormonhaushalt der Eierstöcke und eine häufige Ursache der Unfruchtbarkeit – weit entfernt vom Darm, denkt man. Das ist falsch, fand 2017 die Endokrinologin Barbara Obermayer-Pietsch von der Universitätsklinik Graz heraus. Die Hormonwerte und Beschwerden der betroffenen Frauen hängen mit dem Mikrobiom zusammen. Die Siedler aus dem Darm beeinflussen also unsere Spiegel an Sexualhormonen oder, plump gesagt, wie männlich oder weiblich wir sind.
Ähnlich unterschwellig ist der Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Wenn butyratproduzierende Mikroben fehlen, kommt es zu einer latenten chronischen Entzündung im gesamten Körper. Diese sei der Boden, auf dem eine Zuckerkrankheit und auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen. Ein anderer wichtiger Zusammenhang: Aus Fleisch und Wurst produzieren Siedler im Darm das problematische Stoffwechselprodukt Trimethylamin, das die Leber in giftiges Trimethylaminoxid umwandelt. Es verengt die Blutgefäße und sorgt dafür, dass sich leichter Gerinnsel bilden. Die wiederum lösen Herzinfarkte, Thrombosen und Schlaganfälle aus. Es wird nun daran geforscht, welche Bakterien im Darm das Gift im Übermaß bilden.
Die große Frage für die Zukunft wird nun sein: Wie kann eine Therapie aussehen, die diese Krankheiten abwendet? Eine Behandlung mit Antibiotika ist nicht sinnvoll, weil die Mittel auf alle Einzeller wirken, auch die guten – und damit erst das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht bringen.
Ein anderer Weg wäre naheliegender: die Gifte einzufangen. Stanley Hazen von der Universität Ohio experimentiert bereits mit Enzymen, die verhindern sollen, dass Trimethylamin überhaupt entsteht. Die Hoffnung: Das könnte Herz-Kreislauf-Leiden abwenden. Diesen Ansatz wählt auch das US-Unternehmen Cortexyme. Etliche Studien haben erbracht, dass die Zahnfleischerkrankung Paradontitis offensichtlich mit dem Risiko für eine Demenz verquickt ist. Der Mundkeim Porphyromonas gingivalis bildet ein Toxin, das Hirnzellen untergehen lässt. Cortexyme testet nun einen Hemmstoff gegen dieses Zellgift in klinischen Studien. Es konnte zeigen, dass sich mit diesem Wirkstoff die Blutwerte von Demenzpatienten bessern. Ob er die Symptome einer Demenz lindert, ist noch nicht erforscht.
Der Nachteil: Menschen müssten diese Mittel ständig einnehmen. Besser wäre es daher, die bakterielle Lebensgemeinschaft so zu verändern, dass sie den Körper von sich aus gesund hält. Dazu müssen die Mediziner gegen mächtige Beharrungskräfte ankämpfen. Oft ist die Gemeinschaft so aufeinander eingeschworen, dass selbst große Mengen Bakterien und Pilze, die über probiotische Nahrungsmittel in den Darm gelangen, nur so lange nachzuweisen sind, wie sie eingenommen werden. Dann verlieren sie gegen die Alteingesessenen.
Erfolgreich verändern lässt sich die Lebensgemeinschaft im Darm allerdings durch die sogenannte Stuhltransplantation. Dabei verwenden Ärzte die Fäkalien eines Gesunden, vermengen sie mit Kochsalzlösung und füllen sie durch einen Schlauch über Nase oder Rektum in den Darm des Patienten. Begonnen haben die Versuche bei unheilbaren Darminfektionen mit dem Bakterium Clostridium difficile, das lebensbedrohliche Durchfälle auslöst. Die Stuhltransplantation, so kurios es klingen mag, heilt mehreren Studien zufolge auf Anhieb etwa 90 Prozent der Patienten, denen sonst nichts mehr hilft. Inzwischen ist sie die Methode der Wahl, so die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten.
Der Ansatz, damit auch andere Krankheiten zu behandeln, liegt nahe. Eine spannende Frage ist beispielsweise, ob die Therapie auch gegen Übergewicht helfen könnte. Aus Mäuseversuchen wissen Forscher etwa, dass der Keim Christensenella minuta schlank zu halten scheint. Zumindest verloren adipöse Nager an Speck, nachdem er ihnen übertragen wurde. „Wir wissen aber nicht, was Henne und Ei ist“, gibt Caspar Ohnmacht vom Institut für Allergieforschung am Helmholtz Zentrum München zu bedenken. „Ist die Mikrobenflora verschoben, weil die Krankheit da ist, oder ist sie Ursache für die Krankheit?“
Klarer sind die jüngsten Erfolge bei der Therapie von Autismus, einer neurologischen Erkrankung, deren Ursache bis heute
mehrheitlich im Gehirn vermutet wird. Forscher konnten jedoch kürzlich zeigen, dass der Transfer gesunder Darmkeime Menschen mit Autismus ernsthaft hilft. Sie verlieren ihre Ängste etwas und treten aus ihrer Inselwelt heraus. Ohnmacht sagt: „Es ist erstaunlich, wie viel dieses kaum beachtete Organ mit uns macht.“
Forscher halten die Stuhltransplantation für vielversprechend genug, um die Methode auf das Niveau moderner Medizin zu heben. Sie wollen damit Befürchtungen der Zulassungsbehörden ausräumen. Denn sowohl das Paul-Ehrlich-Institut als auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte werten Stuhltransplantate als Arzneimittel und warnen vor den Gefahren durch Krankheitserreger, schließlich kann eine Spende ungewollt gefährliche Keime enthalten und damit schwere Nebenwirkungen nach sich ziehen. Daher entstand die Idee, Stuhl in Pillenform auf den Markt zu bringen. Gespendetes Material lässt sich mit Alkohol aufreinigen, die Flora sodann einkapseln und anschließend kryokonservieren. Mit solchen Darmflorakapseln konnten Patienten einer Studie aus den USA zufolge genauso gut kuriert werden.